Weintelegramm 94

In wenigen Tagen wird meine Mutter 75, drei Monate später wird meine Oma 100, dann werde ich 50. +++ Unsere Gesichtszüge sind sehr ähnlich und psychologisch sind wir aus dem gleichen Holz geschnitzt. +++ In punkto Kreativität gleiche ich aber eher meinem im letzten September verstorbenem Onkel, dem Uhrenmacher Derek Pratt. ++++ Diese ganzen Geburtstage, sein Tod und der Abschluss meiner Trilogie zum Thema Wein und Globalisierung mit der Erscheinung von WEIN WEIT WEG kommen mir wie ein Schnitt im Leben vor. +++ Auch die große Welt macht einen Umbruch durch, und diese großen und kleinen Verwandlungen scheinen mir ineinander verzahnt zu sein. +++ In der nächsten Ausgabe der Gastrozeitschrift EFFILEE erscheint Ende Februar mein wahrscheinlich bisher gewagtester Zeitschriftenbericht. +++ Thema ist Eldon Nygaards WILD-GRAPE-Rotwein aus Süd-Dakota/USA (siehe vorletztes Kapitel in WILDER WEIN), eines der erstaunlichsten Gewächse auf Planet Wein. +++ Eigentlich geht es um interkulturelle Kommunikation sowie die Grenzen zwischen Rational/Irrational und Kausalität/Zufall; Themen, die mich während der zehnjährigen Arbeit an meiner Globalisierungs-Trilogie beschäftigten. +++ Im März fahre ich nach Chile, ein Land, das ich lange auf keinen Fall besuchen wollte, weil ich dort auf der menschlichen Ebene keine Spannung erkennen konnte, außer zwischen reichen Winzern und ihren armen Arbeitern. +++ Aber dann hat mich Prof. Hans R. Schulz, Direktor der Forschungsanstalt für Weinbau in Geisenheim, überzeugt, dass in der südlichen Hemisphäre Chile und Argentinien die einzigen Gewinner bei der Klimaveränderung sein werden. +++ Südamerika erstreckt sich weit genug in Richtung Südpol, dass der Weinbau sich weiter nach Süden ausdehnen kann, während in Afrika und Australien längst die jeweils südlichen Spitzen der Kontinente erreicht sind. +++ Fast zeitgleich erfuhr ich von der heftigen Kritik mancher meiner britischen Kollegen an den Rotweinen Eduardo Chadwicks (Errázuriz & Caliterra); ihnen passt es nicht, dass ein chilenischer Winzer die Spitzengewächse von Bordeaux übertrifft. +++ Ihre emotionale Haltung kann man auf drei Worte reduzieren, obgleich selbst die wegen der enormen Kaufkraft und Bordeaux-Begeisterung in China und anderen Entwicklungsländern Blödsinn sind: »Unsere heiligen Weine!« +++ Jetzt glaube ich, dass dank Globalisierung alle Orte Sprengstoff für Gonzo-Journalismus bieten, weil die Spannungen unserer Welt überall zu entdecken sind. +++ Aufgabe eines Journalist ist, sie in lesbare Form zu bringen, nach der alten Devise: »The pen is mightier than the sword«. +++ Allen elektronischen Medien zum Trotz will die Wahrheit geschrieben werden, und sie ist viel erstaunlicher, als wir alle denken. +++ Um sie zu schreiben, muss man sich ihr öffnen, Intuition, Mitgefühl und logisches Denken schärfen. +++ Mit etwas Staunen stellte ich in den letzten Jahre fest, dass meine Erziehung mich ganz gut auf diese Aufgabe vorbereitet hat. +++ Danke Omi, danke Mutti und danke Derek für alles, was ihr mir wissend und unwissentlich gegeben habt. +++ Vieles davon ist das wichtigste in meinem Koffer!

This entry was posted in Wein Telegramm@de. Bookmark the permalink.